Die isolierte Krise gibt es nicht
Wer 2022 Nachrichten liest und das Endgerät nicht aus Frust aus dem Fenster wirft, erweist sich als ziemlich krisenfit. Krieg in Europa, Versorgungsknappheit, Wasserknappheit, eine Hitzewelle jagt die nächste, ein Femizid nach dem anderen, ein Jahr Taliban-Regime in Afghanistan, Dürre, Waldbrände, dubioses Fischsterben in der Oder, Krise, Krise, Krise. Während der politische Blick auf die Bewältigung akuter Krisenherde fokussiert ist, rumort im Hintergrund die Pandemie unverändert weiter und die Klimakrise nimmt apokalyptische Züge an.
Die isolierte Krise und der verlorene Kampf
Die Bewältigung von Krisenherden ist aus politischer Sicht durchaus legitim. Aber solange wir gegeneinander abwägen, ob wir Energie-Versorgungslücken schließen oder Maßnahmen für den Klimaschutz setzen, ob wir Flächen für die Lebensmittelproduktion freimachen oder uns für den Artenschutz einsetzen, haben wir im Kampf gegen die Krisen verloren.
Die isolierte Krise gibt es nicht. Vielmehr müssen wir über einen Systemfehler sprechen, der für das Aufflammen sozialer, ökologischer und politischer Probleme verantwortlich ist. Wir müssen gemeinsame Nenner erkennen und entsprechende Hebel zur Veränderung finden. Das ist schwierig und erfordert internationale Zusammenarbeit, Taktik und Feingefühl.
Am Beispiel der Pandemie lässt sich das sehr gut darstellen. Zoonosen (Viren, die zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können) gibt es schon immer. Da wir aber immer weiter in den Lebensraum der Tiere vordringen, häufen sich die Infektionen zwischen den Spezies. Dazu kommt, dass unsere Ökosysteme durch den Druck der Klimakrise weniger resilient gegenüber Viruserkrankungen sind und sich diese daher schneller darin verbreiten. Zur Pandemie werden die Infektionserkrankungen dann, wie wir gesehen haben, sehr schnell: durch den internationalen Flugverkehr und globalen Handel – was wiederum den Klimawandel anheizt. Die Frage ist also nicht, ob wir uns um die Bewältigung der Pandemie oder um die Stabilisierung des Klimas kümmern sollen, sondern welche Muster wir dahinter erkennen und wie wir gemeinsame Auslöser entschärfen können.
Synergie-Effekte für uns nutzen
In einem Idealszenarium können wir diese Synergie-Effekte nämlich zu unseren Gunsten nutzen. Der Angriffskrieg in der Ukraine hat eine kurze Sekunde lang die Frage in den Raum geworfen, ob erneuerbare Energien nicht nur der Weg aus der Klimakrise, sondern auch der Weg aus der Energieabhängigkeit ist. Das Aufatmen von Umweltschützer:innen weicht einer schnellen Ernüchterung. Denn im gleichen Atemzug definiert die EU-Kommission Nuklearenergie als „gründe Investitionen“, in Frankreich werden Atom-Reaktoren mit dem ohnehin überhitzten Flusswasser gekühlt, was in der extremen Dürre zusätzlich zu Trinkwassermangel in manchen Gemeinden führt, und Österreich denkt über die Reaktivierung des lange stillgelegten Kohlekraftwerks Mellach nach.
In Deutschland ist die Situation nicht besser. Hier dürfen Landwirt:innen dieses Jahr mehr Flächen für den Weizenanbau nutzen, um die Versorgungsknappheit mit Getreide im Land zu stabilisieren. Dafür werden geplante Artenschutzflächen gekippt, während der Ertrag der freiwerdenden Weizenfelder zu 60% der Futtermittelproduktion für Mastbetriebe dient. Lebensmittelproduktion, die über den Weg durch das Tier um zwei Drittel weniger effizient ist.
Wie politische Entscheidungen getroffen, Prioritäten gesetzt und Ressourcen verteilt werden, ist im Umgang mit Krisen leider überhaupt nicht zielführend. Verstrickungen mit fossilen Lobbys bremsen ein Vorankommen zusätzlich, denn fossile Energie ist schon lange nicht mehr konkurrenzfähig. Wir könnten also eigentlich mit entsprechendem politischem Willen diverse Fliegen mit derselben Klappe kriegen.
Von der Utopie zur Realität
Die Lösungen liegen alle vor uns und nicht in einer weit entfernten Zukunft. Die Technologien dafür sind seit Jahren entwickelt und finanzielle Mittel verfügbar, wir müssen sie nur richtig einsetzen und gerecht verteilen. Das populärste Beispiel ist der Ausbau erneuerbarer Energien. Solar-, Wind- und Photovoltaikanlagen sind schon längst günstiger als Kohle und Gas. Wenn wir aber ein weiteres Jahrzehnt auf fossile Energie setzen, werden Folgen der Klimakrise den Staat Österreich 15 Milliarden Euro im Jahr kosten. Geld, das dem Staat an anderen Ecken und Enden fehlt und durch gezielte Maßnahmen der nachhaltigen Energieförderung als Ressource frei werden würde. Das kann auch in dem ewig glorifizierten Kapitalismus keinen Sinn mehr machen.
Und apropos verschwendete Ressourcen: Auch das Thema Fleischkonsum bietet positive Synergieeffekte, über die wir nachdenken sollten. Würden wir alle von heute auf morgen kein Fleisch mehr essen, würden 33 Millionen Quadratkilometer landwirtschaftliche Fläche frei werden. Das sind Dimensionen größer als der afrikanische Kontinent. Mit dieser Fläche könnten sogar 10 Milliarden Menschen ernährt und zusätzliche Naturschutzräume eingerichtet werden. Die Biodiversität würde sich erholen und Treibhausgas-Emissionen aus die Massentierhaltung würden wegfallen. Ein Lösungsweg für den Biodiversitätsverlust, den Welthunger und globale Treibhausgasemissionen. Wenn wir das Gedankenspiel weiterspinnen, könnten wir dadurch auch die Übersäuerung der Meere und die Rekordabholzung der Regenwälder verhindern.
Das sind vielleicht utopische Szenarien, aber sie zeigen, wo entscheidende Hebel sitzen und durch welche Maßnahmen wir sie bedienen können. Die isolierte Krise gibt es nicht. Aber die isolierte Lösung gibt es genauso wenig. Wie in allen Fragen, die unsere diverse Weltgemeinschaft und unseren gemeinsamen Planeten betreffen, gibt es keine einfachen Lösungen. Sie sind alle schrecklich komplex und sprengen Parteiprogramme, Amtszeiten und unsere Vorstellungskraft. Und trotzdem müssen wir diese Gedankenspiele zu Ende denken und uns mutig über die ersten Schritte trauen, um die Krisen unserer Zeit zu bewältigen.
Beitrag von Olivia Leth, 02. September 2022
Quellen:
Laura Eßlinger (30.03.2021): Welche Verantwortung der Mensch für die Corona-Pandemie trägt. In: Deutschlandfunk. URL: https://www.deutschlandfunk.de/klima-tiere-zoonosen-welche-verantwortung-der-mensch-fuer-100.html (zul. aufgerufen am 29.08.2022)
Süddeutsche Zeitung (06.08.2022): Klarheit, kurz vor Aussaat. In: sueddeutsche.de. URL: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/getreideanbau-deutschland-oezdemir-1.5634994 (zul. aufgerufen am 29.08.2022)
Britta Sieling (07.12.2017): Das würde passieren, wenn wir alle sofort aufhören würden, Fleisch zu essen. In: Welt.de. URL: https://www.welt.de/kmpkt/article171128188/Das-wuerde-passieren-wenn-wir-alle-sofort-aufhoeren-wuerden-Fleisch-zu-essen.html (zul. aufgerufen am 29.08.2022)
Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (25.06.2020): Was kostet uns die Klimakrise? In: infothek.bmk.gv.at. URL: https://infothek.bmk.gv.at/studie-folgekosten-klimakrise-klimafonds/ (zul. aufgerufen am 29.08.2022)