„Futeranity“: Lebenswohl durch Nachhaltigkeit
Ein neues Buch des Club of Rome will Barrieren überwinden
(cooppa, 06.04.2020, Manfred Ronzheimer) Ganze Bibliotheken wurden vollgeschrieben über die Zerstörung der Natur durch den Menschen und die außer Balance geratene Nachhaltigkeit. Und nebendran gleich die nächste Bücherflucht mit klugen Werken, wie denn die Lösung auszusehen hätte, wie Natur- und Zukunftsverträglichkeit zu erreichen wären. Dummerweise gibt es zwischen beiden Wissensräumen keine Verbindungstüre, weshalb die realen Fortschritte in der Politik der Nachhaltigkeit, angeführt von der UNO-“Agenda 2030“, den globalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals – SDGs) so gering ausfallen.
Diese These vertritt das neue Buch des Club of Rome, das der deutsche Physiker und Philosoph Christian Berg unter dem Titel „Ist Nachhaltigkeit utopisch?“ im März vorgestellt hat. Eigentlich war die Präsentation in der Uni Hamburg geplant, was aber durch die Corona-Schließung der Hochschulen ins Wasser fiel. Kurzerhand wich man ins Internet aus (Link zum Video). Der Autor dozierte online, die Presse fragte per Chat. Bergs zentrale Aussage – „Wir befinden uns dauernd im Krisenmodus und sind nur mit dem Behandeln von Symptomen beschäftigt“ – wurde somit punktgenau bestätigt.
Barrieren zwischen Wissen und Handeln überwinden
Was aber tun? Um an die Wurzel der Probleme zu gelangen und dort Veränderungen in Gang zu setzen, muss Berg zufolge die Dichotomie zwischen Problemanalyse und Problemlösung aufgebrochen werden, die „Barrieren“, wie er die fehlende Verbindungstür zwischen Wissen und Handeln nennt, überwunden werden. „Wir haben ein Erkenntisproblem zweiter Ordnung“, schreibt Berg. „Uns fehlt das Wissen für die Umsetzung“. Es gibt viel Literatur über die Defizite der Nachhaltigkeit – vom Klimawandel, Ressourcenverschwendung. Artensterben und Meeresvermüllung. „Aber es gibt kaum systematische Analysen, warum wir nicht nachhaltiger sind“ .
Also hat sich Berg an die Arbeit gemacht und den „Bericht an den Club of Rome“ verfasst, ein voluminöses Opus von 459 Seiten, das nun wirklich den kompletten Problem- und Lösungskosmos zwischen zwei Buchdeckel bringt, um darzustellen, so der Untertitel, „wie wir Barrieren überwinden und zukunftsfähig handeln“. Von Nutzen war ihm dabei sein beruflicher Hintergrund, unter anderem als Nachhaltigkeitsexperte beim deutschen Softwarekonzern SAP (was dort „Chief Sustainability Architect“ heißt) oder als Honorarprofessor für Nachhaltigkeit und Globalen Wandel an der Technischen Universität Clausthal. Im Institut für Sozialwissenschaften, Bereich Politikwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel bekleidet er ebenfalls eine Professur. In der deutschen Landesgruppe des Club of Rome gehört er dem Präsidium an. Berg hat neben Physik und Philosophie auch Theologie studiert. Über eine Dissertation zum Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft kam er zu den Fragen, die seine Arbeiten seither begleiten: Wie wir verantwortungsvoll mit der Schöpfung umgehen und Technik entsprechend einsetzen.
Was Nachaltigkeit verhindert – und ermöglicht
Im Ursachenteil wird der komplette Fehlerpark aufgelistet, der Nachhaltigkeit heute verhindert: Falsche Marktanreize, Politikversagen, fehlende Governance, Systemträgheiten oder moralische Defizite. „Der Übergang in eine nachhaltigere Gesellschaft ist wie ein Phasenübergang in der Natur von vielen Parametern abhängig“, schreibt der Wissenschaftler. „Wenn man nur eine Barriere adressiert, und sei es noch so energisch, aber die vielen anderen nicht berücksichtigt, macht man die Dinge vielleicht noch schlimmer“. Die Klimakrise werde nicht überwunden, wenn nur die Klimakrise adressiert werde. Erst komplex denken, um dann systemisch zu handeln, ist Bergs Botschaft: „Transformationen werden möglich, wenn an vielen verschiedenen Stellen und Ebenen ganz unterschiedliche Akteure zusammenwirken.“ Ansätze zum Umschalten sind generell Perspektivwechsel in vielen Bereichen, ein nachhaltiger Konsum der Verbraucher, die Betonung von Verursacherprinzip und Vorsorgeprinzip, wie allgemein die „Faszination für die Wunder und die Schönheit der Natur zu kultivieren“.
Der erste Schritt zur Nachhaltigkeit besteht darin, die Nicht-Nachhaltigkeit zu beenden. Berg schreibt:: „Wenn wir irreversible Prozesse im Erdsystem einleiten, wird das den Handlungsspielraum künftiger Generationen in jedem Fall stark beschränken. Deshalb sollten wir zunächst alles daransetzen, nicht-nachhaltige Entwicklungen zu vermeiden (wie z.B. das Überschreiten planetarer Grenzen es wäre). Dafür ist es wichtig, dass wir die Gründe für unsere Nicht-Nachhaltigkeit, im Buch Nachhaltigkeitsbarrieren genannt, möglichst umfassend verstehen – ohne gleich zu beanspruchen, damit schon eine wirklich nachhaltige Lösung zu haben. Ein solcher Anspruch ist nämlich, wie gesagt, letztlich uneinlösbar, was zu Überforderung und Frustration auf der einen Seite, zu irrationaler Leugnung auf der anderen Seite führt.“
Weniger komplex – das Prinzip Futeranity
Berg betont: „Eine Transformation zu mehr Nachhaltigkeit braucht das konkrete Handeln Vieler. Deshalb muss die Komplexität der Herausforderungen durch Prinzipien nachhaltigen Handelns reduziert werden. Viele Menschen fühlen sich überfordert oder ohnmächtig angesichts der Komplexität der Probleme – dabei ist es dringender denn je, dass viele Menschen aktiv werden.“ Aus diesem Grund schlägt das Buch Prinzipien nachhaltigen Handelns vor, die die Komplexität reduzieren und konkretes Handeln unterstützen.
Das Mindestkriterium für die globalen Bemühungen um Nachhaltigkeit sollte nach Auffassung Bergs „der Erhalt der Erde und des Menschlichen“ sein. Aus dem Englischen „the future of terra and humanity“ formt er dafür den neuen Begriff „Futeranity“ oder auch „Lebenswohl“. Berg schreibt: „Was die je konkreten Mittel sind, die uns diesem Ziel näherbringen, sollte umsichtig und ernsthaft erforscht werden, doch der Begriff der Nachhaltigkeit könnte damit von seinem eschatologischen Ballast befreit, die Diskussion versachlicht und das dringend erforderliche Handeln unterstützt werden“.
Zum Knaller-Wort, wie derzeit „Corona“, wird es „Futeranity“ wohl kaum bringen. Aber die Idee ist entscheidend: Prinzipien nachhaltigen Handelns zu entwickeln und zu verbreiten, „mit denen die Komplexität der Herausforderungen reduziert und konkretes Handeln möglich wird“, wie Berg es formuliert.
Zukünftige Veranstaltungen und ähnliche Ansätze
Berg hatte die Botschaft sein Buchs bereits Ende Januar in einer Veranstaltung im Deutschen Museum in München vorgestellt. Ursprünglich war die Pressevorstellung des Buchs am 17. März 2020 in der Universität Hamburg geplant und vorbereitet. Der intendierte Ablauf sah so aus: Eröffnung durch Prof. Mojib Latif, Präsident der Deutschen Gesellschaft CLUB OF ROME, dann Vorstellung des Berichts vom Autor. „Es ist ein Teufelskreis – der mangelnde Fortschritt in Sachen Nachhaltigkeit lässt die einen immer drastischere Maßnahmen fordern, was den Widerstand bei anderen erhöht. Was wir mehr denn je benötigen, ist eine nüchterne Analyse der Ursachen für unser vielfaches Versagen, klare Lösungswege und eine Anleitung für konkretes Handeln“, so der Autor. An die Vorstellung hätte sich ein Gespräch mit Prof. Claudia Kemfert und dem Autor anschließen sollen, beide sind Präsidiumsmitglieder der Deutschen Gesellschaft CLUB OF ROME. Eine weitere Präsentationsverastaltung ist für den 14. Mai unter dem Titel „Die Utopie retten – Wie wir die Entwertung von Nachhaltigkeit verhindern“ in Berlin geplant Ob sie stattfindet, entscheidet das Virus.
Ein weiteres Buch, das 2019 erschien, befasst sich ebenfalls mit dem Barrieren-Ansatz: Der Sammelband „Gegenwart und Zukunft sozial-ökologischer Transformation“, der von ZIN-Mitarbeiterin Carolin Bohn, ZIN-Sprecherin Prof’in Doris Fuchs sowie Antonius Kerkhoff und Dr. Christian Müller (beide: Akademie Franz Hitze Haus Münster) herausgegeben wurde. ZIN ist das Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung an der WWU Münster.
Links
- Ist Nachhaltigkeit utopisch – oekom Verlag
- Christian Berg
- Online-Buchvorstellung (Video)
- Deutsche Gesellschaft Club of Rome
- Club of Rome – Austrian Chapter
Weitere Infos zum Club of Rome:
Der CLUB OF ROME
1968 wurde in Rom auf Initiative des italienischen Industriellen Aurelio Peccei und des damaligen Wissenschaftsdirektors der OECD, Alexander King, ein Netzwerk von Unternehmern, Diplomaten, Natur- und Wirtschaftswissenschaftlern gegründet. Die Gruppe war besorgt um die Zukunft der Menschheit und des Planeten und wollte Politiker und Entscheidungsträger für die wichtigsten Fragen der Zukunft sensibilisieren: „Der moderne Mensch kann alles verändern, doch darüber vergisst er, sich selbst zu entwickeln“ so Aurelio Peccei.
Der erste Bericht über die Notlage der Menschheit, „Die Grenzen des Wachstums“, warnte vor unbegrenztem materiellen Wachstum und ungehemmtem Konsum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht“.
www.clubofrome.org
Die Deutsche Gesellschaft CLUB OF ROME
Die Deutsche Gesellschaft CLUB OF ROME wurde 1978 in Hamburg gegründet, um das Anliegen des CLUB OF ROME auf nationaler Ebene voranzutreiben. Die Deutsche Gesellschaft CLUB OF ROME beschäftigt sich mit der zentralen Frage: Was ist eine lebensfördernde Zukunft und wie können wir sie erreichen? Hierfür schafft sie Räume für Begegnungen, bietet mit ihren Mitgliedern eine Expertise aus verschiedensten Perspektiven und entwickelt Strategien, um Antworten zu finden.
www.clubofrome.de
Das Austrian Chapter des Club of Rome
Als nationaler Ableger in Österreich koordiniert der Verein zur Förderung des Club of Rome – Austrian Chapter die österreichischen Aktivitäten des Club of Rome und betreibt Projekte und Veranstaltungen unter anderem zu den Themen Wirtschaftswachstum, Energiepolitik, globaler Rohstoffhaushalt, Arbeit / Beschäftigung / Demografie.
www.clubofrome.at
Berichte an den CLUB OF ROME
Berichte an den Club of Rome sind von Fachleuten begutachtete Studien („peer-review“), die vom Exekutivausschuss in Auftrag gegeben oder von einem Mitglied oder einer Gruppe von Mitgliedern oder von einer Einzelperson oder Institution außerhalb des Clubs vorgeschlagen werden. Die Berichte an den Club of Rome helfen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit, wichtige globale Themen besser zu verstehen. Sie sollen eine Diskussion zwischen Wirtschaftsführern, Politikern, den Leitern internationaler Organisationen sowie denjenigen, die Universitäten und Schulen besuchen, und in den Medien anstoßen.