Ein Werkzeugkasten für epochale Veränderungen

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Chile: Der neue Verfassungsentwurf, der am 4. September zur Abstimmung vorlag, schlägt weite Wellen. In seinem Gastbeitrag für die „Wiener Zeitung“ beschreibt der Autor und Politikwissenschaftler Ulrich Brand kommende Veränderungen als „epochal“. Er ruft uns dazu auf, diese Veränderungen als „Werkzeugkasten“ zu nutzen, damit auch wir – die krisengeschüttelte Gesellschaft der reichen Industrieländer – etwas für die Zukunft daraus lernen können.

Die neue Verfassung wurde leider vorläufig von der Chilenischen Bevölkerung in einem Referendum (mit Wahlpflicht!) abgelehnt. Fragen nach dem ‚Warum‘ erübrigen sich: Das historisch konservative Kolumbien scheiterte schon in der Vergangenheit an der Überwindung großer Schwierigkeiten und dem Anstoß der erforderlichen Wende. Zwar haben der Wahlsieg von Gustavo Petro und seiner Vize Francia Marques, zusammen mit dem linken Parteienbündnis „Historischer Pakt“ und teilweise konservativen Beraterin:innen, Hoffnung auf Wandel gebracht. Doch die starke rechte Opposition mit paramilitärischen Gruppen hat Umwelt- und Sozialaktivist:innen terrorisiert und blockieren unter anderem eine Agrarreform, die im Friedensabkommen von 2016 vorgesehen war, bis heute.

Vor allem in Chile geht es jetzt auch darum, die indigenen Völker in ihre Rechte zu setzen und den Staat zu dekolonisieren. Es geht daum, ein paritätisches Recht einzuführen, das von der Gleichheit der Geschlechter und geschlechtlicher Selbstbestimmung ausgeht. Es muss eine Reform des politischen Systems folgen, die die politische Macht weg vom Präsidenten, hin zum Parlament verstärkt und es muss ein Rat der Regionen statt eines Senats geschaffen werden. Nur so kann die Dezentralisierung des Staates gefördert werden. Die demokratischen Zugewinne der neuen Verfassung bestehen vor allem im Gleichheitsgebot (Natur miteinbezogen), das allen Unterfangen unterliegt und so noch in keiner Verfassung der Welt steht. Das könnte umwälzende Folgen in allen Institutionen des Landes haben, da es – wenn das „Apruebo“ („Ich stimme zu“) gewinnt. Zudem legt der Entwurf Chile als „sozialen und demokratischen Rechtsstaat“ fest. Chile, so heißt es im ersten Absatz von Artikel 1, ist „plurinational, interkulturell und ökologisch geprägt“. Mit dieser neuen Verfassung würde die Pinochet-Diktatur und das Paradigma des Neoliberalismus, das in Chile seinen Ausgang nahm, ad acta gelegt werden.

Grundsätzlich sind es bis heute starke Konflikte um Weltanschauungen und Werte, die sich radikalisieren und zu sozialen Aufständen geführt haben. Jedoch, warum kommt es im globalen Süden und jetzt speziell in Chile viel stärker als bei uns im globalen Norden seit Jahren zu derart extremer Politisierung? Ich vermute, es ist nicht zuletzt wegen der mutigen Vertretung indigener Kräfte im Süden, in der Mapuche-Region. Sie kämpfen immer öfter um weitreichende Landrechte und tragen relevante Konflikte mit aktuellen mächtigen Landbesitzern und ressourcengierigen internationalen Unternehmen aus. Könnte es sein, dass sich vor allem aus derartig existentiellen Konflikten heraus, die Erkenntnis der hohen Bedeutung von Umwelt/Natur beschleunigt hat? Dass diese Erkenntnis für die Buen Vivir-Bewegung als Katalysator gewirkt hat?  Diesmal vielleicht zum Vorteil für eine mögliche „epochale Veränderung“?

Lassen sich so radikale, politische Schritte, wie die Enteignung der Forstwirtschaft und die Rückgabe ganzer Landstriche an die Mapuche auch durchsetzen? Offensichtlich (noch) nicht! Nichtsdestotrotz fragen wir uns: Könnte diese neue Verfassung für Chile – vielleicht beim nächsten Referendum mit positiver Abstimmung – der Katalysator für eine globale ökosoziale Transformation sein? Für einen Wandel, „the hopeful change towards wellbeing“ bedeuten?

Ulrich Brand schreibt dazu: „Die Umsetzung der neuen Charta würde auch bedeuten, dass der Ressourcenhunger des globalen Nordens anders gestillt werden muss, als das bisher der Fall und geplant ist. Chile ist bisher nicht nur der weltweit größte Exporteur von Kupfer, sondern künftig soll mit dem als „weißes Gold“ bezeichneten Lithium der Umstieg auf Elektroautos in Ländern wie Deutschland und China vorangetrieben werden. Würden die neuen Bestimmungen umgesetzt, müsste viel stärker auf die sozialen und ökologischen Bestimmungen der Rohstoffförderung geachtet werden. Und die lokale Bevölkerung würde das Recht bekommen, gegebenenfalls die Ressourcenextraktion zu untersagen.“

Ja, und wer setzt das bei uns im globalen Norden durch? Wo NGOs wie die European Coalition for Corporate Justice, Friends oft he Earth, Gewerkschaften und Arbeiterkammer immer noch gegen globale Industrielobbys kämpfen müssen, um unter anderem Lieferketten zu verändern und Greenwashing transparent zu machen.

„Insofern könnten von Chile, wohl im Verbund mit anderen linken Regierungen in Lateinamerika, wie etwa jener neuen in Kolumbien unter Gustavo Petro oder nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober womöglich in Brasilien, Initiativen zur Reform der Weltwirtschaft ausgehen“, sagt Brand. „Diese gerechter und ökologischer zu gestalten, ist eine internationale Grundbedingung, um viele zur Abstimmung stehenden Ziele der neuen Verfassung zu erreichen. Doch dafür bedarf es nicht nur eines angemessenen rechtlichen Rahmens, sondern einer viel umfassenderen Veränderung der extrem ungleichen Lebens- und Machtverhältnisse in Chile.“

Tja, der Königsweg in eine bessere Zukunft ist wohl mehr Gleichheit und dazu ist radikales Umdenken nötig. Dies zu erwirken, bemüht sich jetzt auch der Club of Rome. Dazu gibt es einen umfassenden Bericht, der kürzlich auch in deutscher Sprache erschienen ist. „Earth for All – darüber berichtet auf der Politik-Seite ebenfalls die „Wiener Zeitung“.

Im Kern geht es doch um das gute Leben – das gute Leben aller, jetzt und in Zukunft. Damit sind unmittelbar Verteilungsfragen angeschnitten, vor allem globale Verteilungsfragen. Das Wohlergehen einiger darf nicht auf Kosten anderer gehen. Billige Produkte, auf denen unser Wohlstand in den früh industrialisierten Ländern beruht, basiert oft auf niedrigen Einkommen und schlechten Arbeitsbedingungen der Produzent:innen. Das gilt aber auch für die Erbringer von Dienstleistungen in unserer Gesellschaft – vom Tellerwäscher im Restaurant bis zur Reinigungskraft im Museum. Das Wirtschaftssystem sollte so ausgelegt sein, dass es nachhaltig innerhalb planetarer Grenzen bestehen kann und gleichzeitig die Erreichung sozialer Ziele, besonders die Lebensqualität, ermöglicht beziehungsweise erhält. Dies könnte meiner Ansicht nach durch eine schrittweise wachsende Besteuerung des individuellen Naturressourcenverbrauchs erreicht werden, deren Einnahmen den Konsument:innen in gleichem Ausmaß zurückgezahlt werden, sowie durch einen inter- und innernationalen Handel mit Zertifikaten, die zum Verbrauch mit Naturressourcen berechtigen. Ich beziehe mich hier auf Arbeiten von H.P. Aubauer (gest. 2014), die ständig weiterentwickelt werden– und heute mehr denn je beachtet werden sollten.

Was also Wachsen muss, vorausgesetzt wir wollen eine „epochale Veränderung“, ist die Verantwortung – vor allem die gegenüber den Rechten der Natur und ihrer Nutzung.

Beitrag von Ilse Kleinschuster, 12. September 2022

Ein Gedanke zu „Ein Werkzeugkasten für epochale Veränderungen

  • 21. September 2022 um 9:06
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    Auch wir vom „Runden Tisch Grundeinkommen“ glauben nicht, dass wir das einzig richtige Konzept haben. Aber wir finden, dass es Zeit ist der Kultur des Kapitalismus ein Ende zu setzen. Das geht freilich nicht von heute auf morgen! Es geht dabei um eine Zeit des Übergangs, in der wir an die vielfältigen alternativen, nichtkapitalistischen Praktiken anschließen sollten, die auf der ganzen Welt bereits existieren. Es gibt sie ja bereits, diese alternativen Werte, Erfahrungen und Praktiken – wie eben oben erwähnt, das Buen Vivir der indigenen Gemeinschaften der Anden und des Amazonas. Natürlich wäre es besser im Plural von Gemeinwohl-Gemeinschaften zu sprechen, denn es gibt doch viele gangbare Wege zum guten Leben. Eine Welt in der andere Welten möglich sind erfordert aber ein anderes Wirtschaften: eine Ökonomie der Solidarität, der Reziprozität und der Nachhaltigkeit. Diese neue Verfassung bringt klar zum Ausdruck, dass eine neue Art von Wirtschaft sich unweigerlich den Gesetzen der Natur unserer ERDE wie auch den Anforderungen der menschlichen Gesellschaft, die ja Teil der Natur ist, zu unterwerfen haben wird. Es geht also um eine Neudefinition des Verhältnisses von Gesellschaft und Natur. Eine Definition, die klar zum Ausdruck bringt, dass Wirtschaft nicht der Verwertung des Kapitals dienen soll, sondern dem Wert des Lebens. Wichtige Schritte auf diesem Weg sind die Dekommerzialisierung der Natur und der Gemeingüter, die Dezentralisierung des Produktionsapparats, sowie die Umverteilung von Reichtum und Macht. Um die Trennung von Natur und Mensch rückläufig machen zu können, braucht es jedoch Möglichkeiten neben den Menschenrechten auch die Rechte der Natur einfordern zu können.

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