Viertes FONA-Programm gestartet
Forschung für Nachhaltigkeit so gut wie noch nie ausgestattet und dringlicher denn je
(cooppa, 26.11.2020, Manfred Ronzheimer) Was in der Öko-Nische begann, hat sich zum Großvorhaben „Weltrettung“ ausgewachsen: Die Nachhaltigkeits-Forschung hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht. In dieser Woche stellte die deutsche Bundesforschungsministerin Anja Karliczek in Berlin das neue Förderprogramm ihres Hauses „Forschung für Nachhaltigkeit“ (FONA) vor.
Für wissenschaftliche Untersuchungen, die mehr „Zukunftsfähigkeit“ in den Bereichen Umwelt, Wirtschafrt und Gesellschaft befördern sollen, stehen in den kommenden fünf Jahren vier Milliarden Euro aus der Kasse des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Verfüung. Das ist eine Verdoppelung gegenüber dem Vorgänger-Programm.
Seit dem Start von FONA im Jahre 2005 hat das BMBF bis Anfang 2018 fast 10.000 Vorhaben mit ca. 5,2 Milliarden Euro gefördert. Weil das neue Programm stringenter gegliedert ist als die vorherigen wissenschaftlichen „Gemischtwarenläden“, hat es auch das Etikett „Strategie“ erhalten. Drei große Ziele verfolgt FONA-4. Die Klimaziele des Pariser Abkommens sollen bis 2030 erreicht werden, etwa durch die Einführung von „Grünem Wasserstoff“, hergestellt aus Windkraft, oder durch die Nutzung von Kohlendioxid als Rohstoff in der Industrie – ein wichtiger Baustein einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft. Großziel Nummer zwei ist der Schutz der natürlichen Lebensräume für Tiere und Pflanzen sowie die Senkung des Ressourcenverbrauchs. Ansätze dafür sind die Minderung globaler Wasserkrisen oder die Weiterentwicklung von Agrar- und Ernährungssystemen.
Das dritte Ziel lautet: „Gesellschaft und Wirtschaft weiterentwickeln – gut leben im ganzen Land“, etwa durch nachhaltige Mobilitätskonzepte für Stadt und Land. Hier sollen erstmals in größerem Stil „soziale Innovationen“ angepackt werden, die auch auf die Erfindungsgabe der Bürger und ihren Erneuerungswillen setzt. Die Anstrengungen der Bundesregierung, sich mehr um „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in den unterschiedlichen deutschen Regionen – zumal den „abgehängten“ – zu kümmern, findet hier ihren wissenschaftlichen Niederschlag. Alle neuen Wissenschaftsprojekte, die im Zuge des Kohle-Ausstiegs für die betroffenen Regionen vereinbart wurden, wurden auf diesem Wege unter das FONA-Dach geschoben – auch ein Grund für den Mittelzuwachs.
Nur zehn Jahre Zeit
Die Zeit drängt. Schnelle Umsetzung der Forschungsergebnisse in die Praxis des Wandels ist gefordert. „Uns bleiben nur noch zehn Jahre Zeit, um wirksamen Einfluss auf die Klimaveränderung auszuüben“, übernahm die Forschungsministerin die fortlaufenden Warnungen des Weltklimarates.
Alle drei übergeordneten strategischen Ziele sind darauf ausgerichtet, dass Forschung einen wesentlichen Beitrag zur Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit ihren „Sustainable Development Goals“ (SDGs) leisten kann. Diese Ziele sind mit acht Handlungsfeldern und Aktionen untersetzt. Die 25 Aktionen sind der zentrale Umsetzungshebel und basieren auf konkreten Umsetzungsschritten und Meilensteinen:
Ziel 1: Klimaziele erreichen
Handlungsfeld 1: Treibhausgase vermeiden und mindern (Mitigation)
Aktion 1: Industrielle Prozessemissionen reduzieren, CO2 als Rohstoff nutzen
Aktion 2: Grünen Wasserstoff in Deutschland etablieren
Aktion 3: Umweltschonende Methoden der CO2–Entnahme aus der Atmosphäre prüfen
Handlungsfeld 2: Anpassungsfähigkeit und Risikovorsorge verbessern (Adaptation)
Aktion 4: Klimawandelbedingte Extremereignisse in Deutschland erforschen
Aktion 5: Auswirkungen von Klimawandel auf Gesundheit verstehen und vorbeugen
Aktion 6: Städte und Regionen resilienter machen
Handlungsfeld 3: Wissen für wirksame Klimapolitik
Aktion 7: Globale Klimamodellierung verbessern
Aktion 8: Treibhausgase für den Klimaschutz überwachen
Aktion 9: Klimamaschinen Meeres- und Polarregionen verstehen
Ziel 2: Lebensräume und natürliche Ressourcen erforschen, schützen, nutzen
Handlungsfeld 4: Erhalt der Artenvielfalt und Lebensräume
Aktion 10: Biodiversitätsmonitoring in Deutschland weiterentwickeln
Aktion 11: Systemzusammenhänge von Biodiversitätsveränderungen verstehen
Aktion 12: Lebensräume und Ökosysteme erhalten
Handlungsfeld 5: Natürliche Ressourcen sichern (Wasser, Böden)
Aktion 13: Wasserkrisen global mindern
Aktion 14: Die Verschmutzung von Flüssen und Meeren stoppen
Aktion 15: Gesunde Böden erhalten und Land nachhaltig nutzen
Aktion 16: Weiterentwicklung von Agrar- und Ernährungssystemen
Handlungsfeld 6: Kreislaufwirtschaft – Rohstoffe effizient nutzen, Abfall vermeiden
Aktion 17: Gesamtrohstoffproduktivität steigern
Aktion 18: Bioökonomie: Biobasierte Rohstoffe nutzen und Abfälle vermeiden
Aktion 19: Kunststoffkreisläufe schließen
Aktion 20: Phosphorrecycling: Abfallströme verwerten, Ressourcen rückgewinnen
Ziel 3: Gesellschaft und Wirtschaft weiterentwickeln – gut leben im ganzen Land
Handlungsfeld 7: Gesellschaft gemeinsam gestalten – Zusammenhalt stärken
Aktion 21: Gleichwertige Lebensverhältnisse – Wohlstand, Teilhabe und Demokratie stärken
Aktion 22: Nachhaltige Ausrichtung des Wirtschafts- und Finanzsystem unterstützen
Handlungsfeld 8: Regionen innovativ gestalten
Aktion 23: Strukturwandel in den Kohlerevieren mit Forschung und Innovationen gestalten
Aktion 24: Wandel in Stadt, Land und Regionen zukunftsfähig gestalten
Aktion 25: Nachhaltige Mobilität in Stadt und Land sichern
Innovationsschub für die Wirtschaft
Und schließlich Corona. Vor allem der Shutdown-geschwächten Wirtschaft will das BMBF-Programm unter die Arme greifen. „Ich will mit der Forschung im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie einen Innovationsschub für die deutsche Wirtschaft in der Post-Corona-Zeit auslösen, damit wir in Deutschland unsere Nachhaltigkeitsziele erreichen, aber auch dazu beitragen, dass sie weltweit erfüllt werden können“, sagt Ministerin Karliczek und bekennt sich zur innovativen Industriepolitik. „Wir müssen die neuen Zukunftsmärkte in aller Welt erschließen“, so die Minsterin. Deutschland müsse „Antreiber und Technologieführer für grüne Innovationen“ werden. Gleichzeitig solle Deutschland dazu beitragen, dass „auch andere Länder ihre Nachhaltigkeitsziele erreichen“ können.
Einer der Vordenker der „Großen Transformation“, der Umweltökonom Uwe Schneidewind, seit kurzem von der Wissenschaft in die Kommunalpolitik gewechselt, war bei der FONA-Präsentation aus seinem Oberbürgermeister-Büro in Wuppertal zugeschaltet. Der Grünen-Politiker, der in einem Bündnis mit der CDU das Rathaus der Friedrich-Engels-Stadt erobert hatte, betonte den Bedarf an praktischer Umsetzung von theoretischen Wisssenschaftserkentnissen. „Diese Umdenkprozesse finden jetzt überall statt“, konstatierte Schneidewind. „Urbane Reallabore“ seien wichtige Probierstätten der Nachhaltigkeit. So wird in Wuppertal mit FONA-Hilfe ein neues Mobilitätskonzept realisiert – was seit dem Ausfall der Schwebebahn noch dringlicher ist.
Entscheidend ist die Wirksamkeit vor Ort
Daniela Jacob, Hamburger Meteorologin und Direktorin des Climate Service Center Germany (GERICS), einem Informationszentrum für Klimaforschung, hob den strategischen Ansatz des neuen FONA-Programms hervor. Bisherige Einzelmaßnahmen würden nun vernetzt. „Aber Wechselwirkung braucht ein gutes Konzept“, meinte die Klimaexpertin. „Entscheidend ist die Wirksamkeit vor Ort“. Positiv sei auch der Bezug zum „Green Deal“ der Europäischen Union.
Schon im Januar hatte eine Evaluation des letzten FONA-Programms durch die Fraunhofer-Gesellschaft und Prognos dem BMBF eine stärkere Einbeziehung von „sozialen Innovation“ nahegelegt. Um die Wirksamkeit der FONA-Forschung weiter zu erhöhen, empfehlen die Expert, die Förderung stärker an konkreten Zielen zu orientieren. Dem wird nun dadurch Rechnung getragen, dass alle forschungspolitischen Maßnahmen des Kohle-Ausstiegs nun in die Nachhaltigkeitsforschung „eingemeindet“ wurden. Einen weiteren Finanzaufwuchs bringt die Förderung der Technologie für „Grünen Wasserstoff“ aus dem Corona-Konjunkturpaket vom Juni.
Viel Geld, und doch zu wenig?
Aus Sicht der Zivilgesellschaftlichen Plattform „Forschungwende“ dagegen ist die Finanzierung keinesweg ausreichend. Vom Gesamtetat des BMBF in Höhe von über 20 Milliarden Euro entfallen, wie Forschungswende-Sprecherin Steffi Ober kritisiert, auf den Bereich „Nachhaltigkeit, Klima, Energie“ lediglich 776 Millionen Euro. Trotz eines Anstiegs von 200 Millionen im Vergleich zu 2020 (2020: 573 Millionen Euro) „wird dies nicht ausreichen, die globalen Herausforderungen zu bewältigen“, so Ober. So werde etwa der Bereich „Gesellschaftswissenschaften für Nachhaltigkeit“ mit lediglich 54 Millionen Euro gefördert. Auch wenn das BMBF ankündige, verstärkt die Forschung für Nachhaltigkeit und soziale Innovationen fördern zu wollen, so die Forschungswende-Sprecherin: „Diesem Anspruch wird der vorgelegte Haushalt nicht gerecht.“
Aus der genauen Finanzierung macht das BMBF ein ziemliches Geheimnis. In der Programm-Broschüre gibt dazu keine Auskunft. Nur an einer einzigen Stelle, S. 53, wird einmal eine Euro-Zahl – 400 Mio – genannt. Das ist eine zu sparsame Verwendung von Finanzinfos. Wenn Journalisten nachfragen, bekommen sie aus dem BMBF zur Antwort:
„Die Gesamtsumme für die FONA-Strategie berechnet sich entlang der Finanzplanung im Einzelplan 30 des Bundesetats 2021 – BT-Drucksache 19/22600 (3) – für die Titelgruppe 40 „Nachhaltigkeit, Klima, Energie“ in Kapitel 3004 plus Anteile der Titel 3004 / 685 10 „Innovationsförderung in den neuen Ländern und regionaler Strukturwandel“ und 3004 / 685 31 „Methoden- und Strukturentwicklung in den Lebenswissenschaften (hier: Biodiversität)“.
Fachhochschulen stärker beteiligen
Kritik gibt es auch an der unzureichenden Beteiligung der deutschen Fachhochschulen an der Nachhaltigkeitsforschung. So haben die drei Professoren Marc Ringel, Sven Kesselring und Michael Roth von der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Nürtingen-Geislingen in einer Untersuchung festgestellt, dass in der Schweiz und Österreich die Hochschulen für die angewandte Forschung stärker in Nachhaltigkeitsthemen eingebunden sind als in Deutschland. Hier wird das Feld von den Universitäten dominiert, die mehr grundlagenorientiert forschen und beim Transfer in die Anwendung nicht so stark sind.
Dass diese künstliche Trennung speziell in der Nachhaltigkeitsforschung deutlich überholt ist, zeigte eine Analyse der Rolle der Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) für Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung in der Schweiz, Österreich und in Deutschland in verschiedenen Beiträgen der Zeitschrift GAIA. Anknüpfend an die Analysen der Kollegen aus der Schweiz (Kueffer et al. 2017) und Österreich (Sedlačko et al. 2018), die jeweils die Situation in ihren Ländern beleuchteten, haben die Professoren Marc Ringel, Sven Kesselring und Michael Roth von der HfWU die deutsche Situation aus ihren jeweiligen Fachperspektiven analysiert (Ringel et al. 2018). Die Sichtung der Aktivitäten zeigt: Es besteht ein erhebliches Potenzial zur Politikberatung und Begleitung der Transformationen, das allerdings nur unzureichend abgerufen wird. Ringel: „Vor diesem Hintergrund ist es faszinierend zu sehen, dass die Diskussion nicht im Sande verläuft, sondern in der Schweiz nun auch institutionell aufgegriffen wird. Wir können nur hoffen, dass die deutsche Wissenschaftslandschaft diesem Beispiel folgt.“