Planetare Gesundheit schützt Mensch und Natur
Europäische Konferenz zur Bürgerforschung in Berlin
Die Bürgerforschung als neues Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft erobert sich immer neue Kooperations- und Anwendungsbereiche. Das zeigte sich auf vierten Konferenz der European Association für Citizen Science (ECSA), die im Oktober mit rund 400 Teilnehmern in Berlin stattfand. Unter dem Rahmenthema „Bürgerforschung für einen gesunden Planeten“ wurden allerdings nicht nur Projekte aus den Bereichen Ökologie und Medizin vorgestellt, sondern auch Partizipationsformate, die mit dem Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft auch praktische Verbesserungen auf der kommunalen Ebene anstreben.
Der Direktor des Museums für Naturkunde in Berlin, Johannes Vogel, zeigte sich als Gastgeber der internationalen Tagung beeindruckt von der Bandbreite der vorgestellten Projekte. Der Schutz der Natur sei eng mit dem Schutz der menschlichen Gesundheit verbunden. Wichtig sei, unter Beteiligung der breiten Bevölkerung Ansätze zur Prävention von Krankheiten und Pandemien zu fördern. Die sozialmedizinische Fachrichtung des „Public Health“ müsse mehr Impulse von „Bottom-up“-Inititativen aus der Bürgerschaft und von Patiengruppen bekommen. „Und wir müssen diese Kooperation auch in den politischen Raum tragen“, forderte Vogel, der selbst zu den Gründungsmitgliedern der ECSA gehört, die heute rund 4000 Mitglieder zählt.
Ein Aktionsfeld ist der lokale Klimaschutz. Das Citizen Science-Projekt „Terrifica“, das von der EU Kommission gefördert und vom Wissenschaftsladen Bonn koordiniert wird, will neben der langfristigen Ausrichtung auf klimaneutrale Städte im Jahr 2050 auch aktuelle Schritte zur Anpassung an den Klimawandel anstoßen. In den beteiligten Städten, darunter Barcelona, Oldenburg, Posen und Belgrad, werden die Bürger angeleitet, in digitalen Openstreetmap-Karten solche Orte einzutragen, die aus ihrer Sicht eine ökologische Verbesserung benötigen, etwa durch neue Wasserflächen im Stadtgebiet oder Lebensmittelproduktion auf öffentlichem Gelände („Essbare Stadt“). Die Vorschläge werden von Forscher*innen auf ihre Wirksamkeit geprüft und den kommunalen Entscheidungsträgern übermittelt.
Mit dem Phänomen der sogenannten „Hitzeinseln“ in dicht bebauten Gebieten, das aufgrund des Klimawandels immer häufiger und intensiver auftritt, beschäftigt sich das Citizen Science-Projekt „3-2-1-heiss!“, das im schweizerischen Kanton Aargau vom dortigen Departement Bau, Verkehr und Umwelt in Gang gesetzt wurde. Wo es im Kanton Aargau besonders heiss wird, wird auf Klimakarten im Internet dargestellt. Erhoben wurden die Daten von Bürger*innen, die mit einer „SenseBox“, einem Temperatursensor, ausgerüstet wurden. Sie konnten so beim Hundespaziergang, dem Arbeits- oder Schulweg die Temperaturen in fünf Gemeinden messen. Die jüngste Messkampagene fand an den heissesten Tagen des Jahres zwischen dem 13. und 31. August statt. Im Anschluss an die Messaktion wurden die Ergebnisse zwischen Bürgerforscher*innen und Kommunalpolitiker*innen diskutiert, um gemeinsam Ideen für die Schaffung von angenehm kühlen öffentlichen Aufenthaltsorten zu entwickeln. Interessant ist an dem Projekt, dass hierbei die nicht die Wissenschaft, sondern die Fachpolitik den Kontakt mit den Bürger*innen gesucht hat, um zu klimagerechten Lösungen zu gelangen.
Gegen den Artenschwund in Flora und Fauna engagiert sich das britische Citizen Science-Projekt „Naturehood“. Nach dem jüngsten „State of the Nature“-Report hat sich die Artenvielfalt in Großbritannien in den letzten 50 Jahren um 41 Prozent verringert. Daher sollen private Gartenbesitzer dazu angeleitet werden, ihre grünen Refugien für bedrohte Tierarten nutzbar zu machen. Immerhin machen private Gärten drei Prozent der Landesfläche aus. Das von der Umweltorganisation Earthwatch Europe getragene Projekt beteiligt die Bürger*innen mit neun Maßnahmen an der Gestaltung artenschutzgerechter Gärten. Dazu gehört der Bau von Insektenhotels oder die Anlage von Blumenstreifen mit Arten, die für Bienen eine gute Nachrungsquelle sind.
Besonders ambitioniert ist das EU-geförderte Projekt „CitiMeasure“, das Leitfäden entwickeln will, wie Kommunen ihre Bürger*innen besser in Entscheidungsprozesse der lokalen Politik einbeziehen können. Dabei spielt die „digitale Inklusion“ eine besondere Rolle, um die Wissens-Kapazitäten der Gesellschaft besser aktivieren zu können. Es sollen aber auch Methoden untersucht werden, wie sich Verhaltensänderungen bei den Bürger*innen für mehr Umweltschutz erreichen lassen. Erste Probeläufe in dieser Richtung hat es bereits in Barcelona gegeben.
Getragen wird das Projekt vom Netzwerk „Eurocities“, das 1986 von den Bürgermeistern der Städte Barcelona, Birmingham, Frankfurt, Lyon, Mailand und Rotterdam gegründet wurde, um einen engeren Austausch über stadtrelevante Politikfelder, wie Kultur-, Umwelt-, Stadtentwicklungs und Sozialpolitik, zu ermöglichen.
Auf der Berliner Konfererenz gab auch das großangelegte Forschungsprojekt „CS Track“ Einblicke in erste Zwischenergebnisse. Das Projekt verfolgt das Ziel, die europäische Citizen-Science-Landschaft zu kartieren und die Arbeitsweisen und Wirkungen von Citizen-Science-Projekten zu untersuchen. Dafür wurden bisher Interviews und Online-Befragungen mit über 1.000 Bürgerforschern durchgeführt, der Diskurs in sozialen Medien analysiert und eine Datenbank mit Informationen zu über 4.700 Citizen Science-Projekten aus 22 Ländern angelegt. Welche Eigenschaften Bürgerforscher chrakterisieren und welche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen sind, stellte das von Team CS Track in einem Online-Seminar dar.
Bereits im Mai 2022 hatte es in der Universität Wien eine Präsentation gegeben, an der auch der Wissenschaftsladen Wien beteiligt war. Die österreichische Hauptstadt wird in zwei Jahren auch Gastgeber der nächsten europäischen Konferenz für Bürgerforschung sein. In Berlin wurde offiziell der „Staffelstab“ an das Naturhistorische Museum Wien übergeben, das die Tagung 2024 gemeinsam mit der BOKU ausrichten wird.
Beitrag von Manfred Ronzheimer, 5. Dezember 2022