“Manchmal ist es gut, verrückt zu sein.” – Interview mit Menschenrechtsanwalt Colin Gonsalves

Beitrag teilen

(cooppa, Interview von Christian Hinterberger, 09.05.2018)

Colin Gonsalves ist Gründer des Human Rights Law Network (HRLN), einer indischen NGO, die Rechtsdienste für Menschen in Armut und Unterdrückung leistet. Im vergangen September wurde er „für seinen unermüdlichen und innovativen Einsatz vor Gericht, um die grundlegenden Menschenrechte von Indiens marginalisiertesten Bürgern zu schützen“ mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet, inoffiziell bekannt als „Alternativer Nobelpreis“. Im Gespräch mit cooppa beschreibt er das HRLN – bestehend aus mehr als 20 Büros und 250 Juristen und Aktivisten – als „combative legal office“: man gehe bewusst an Orte der Unterdrückung und nehme am rechtlichen Kampf gegen diese Unterdrückung der Armen teil. Waffe sei die indische Verfassung und das starke und innovative Rechtssystem Indiens, das sogenannte Public Interest Litigation (übersetzt so viel wie Sammelklagen im öffentlichen Interesse) ermöglicht, um etwa für die Rechte der Armen zu kämpfen.

Weil Gonsalves für eine Konferenz in Deutschland nach Europa gekommen war, hat ihn die Dreikönigsaktion (DKA), das Hilfswerk der Katholischen Jungschar in Österreich, nach Wien eingeladen. Den langjährigen Kooperationspartner DKA beschreibt Gonsalves als „dear friends and supporters“ (liebe Freunde und Unterstützer) seiner Arbeit in Indien, die Aufgrund ihrer langen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern viel Sachverstand mitbringen. Man verstehe und sehe die Probleme und Lösungen auf die selbe Weise. Die DKA würde verstehen, dass der Weg nach vorne nicht durch die Abhängigkeit von Spenden funktioniere, sondern vielmehr durch die Stärkung des Menschenrechtssystems. Wir haben unser Interview mit Colin Gonsalves aufgezeichnet und einmal als zusammenfassendes Video (engl.) sowie auch als ausführlicheres schriftliches Interview auf Deutsch übersetzt veröffentlicht:

 

cooppa: Könnten Sie von einem Fall erzählen, bei dem das Human Rights Law Network (HRLN) aktiv geworden ist? Wie kommt es dazu, dass das HRLN eingeschalten wird?

Colin Gonsalves: Ein Beispiel wäre die Massensterilisation indischer Frauen im Familienplanungsprogramm [Anm: Sterilisation – besonders der Frau – ist eine der weitverbreitetsten Verhütungsmethoden in Indien und wird auch staatlich unterstützt]. In ländlichen und entlegenen Gegenden des Landes, wo die Berichterstattung der Medien nicht hinreicht, wurden besonders arme Frauen in Camps, verlassene Schulen und Krankenhäuser, gebracht und dort mit einer Maschine hundert Frauen eine nach der anderen sterlisiert – ohne zwischenzeitliche Säuberung des Equipments oder Handschuhe zu tragen. Viele Frauen im ganzen Land starben oder trugen ernste Beschwerden und Erkrankungen davon. Das lief einige Zeit so.

Uns wurde von diesen Camps berichtet, worauf wir sie besucht und aufgezeichnet haben, was dort passierte. Manchmal hörten wir davon, wenn Frauen zur Polizei gingen, woraufhin wir diese Frauen dann auch selbst treffen und ihre Fälle dokumentieren konnten. Mit deren Einwilligung haben wir diese Aussagen, dann zum Obersten Gerichthof gebracht. Der Oberste Gerichtshof schrieb schließlich vor, dass Sterilisierungen nur in offiziellen Krankenhäusern, von anerkannten Ärzten und unter sicherer Handhabung durchgeführt werden dürfen. Das war die wichtige Reform eines schrecklichen Teils des Familienplanungsprogramms durch den Obersten Gerichtshof.

Liegen solche Erfolge an der Verfassung? Einer Verfassung, die so etwas nicht erlaubt?

Die Verfassung ist eine gute und wichtige Basis, aber wichtig ist vor allem die Ausweitung von Verfassungsrechten durch positive gerichtliche Erklärungen. Die Verfassung ist ein lebendes Instrument, die mit dem Fortschreiten der Zeit und gesellschaftlicher Veränderungen nicht statisch geblieben ist. Die Verfassung wächst mit der Gesellschaft und die Gerichte waren entscheidend, die Verfassung entsprechend zu interpretieren. Das Recht auf Nahrung, auf eine gesunde Umwelt, auf Bildung oder auf Wohnen steht zum Beispiel nicht als solches in der Verfassung. Stattdessen hat der Oberste Gerichtshof, wenn es um solche Fälle ging, Artikel 21 – das Recht auf Leben – als diese Rechte umfassend interpretiert.

Die Judikative ist also dafür verantwortlich, dass dieser Verfassung immer wieder neues Leben gegeben wurde. Ich würde sagen, im Bereich Public Interest Litigation ist sie die beste der Welt. Aber der Westen verbleibt bei seinen alten und überholten Konzepten. Im Gegensatz zu allen Entwicklungsländern, werden Gruppenrechte im Westen nicht anerkannt. Auch nicht das man einen Prozess in repräsentativer Kapazität führen kann. Wenn eine große Anzahl an Menschen mit einem Problem konfrontiert sind, müssen alle von ihnen zu Gericht ziehen, müssen alle unterschreiben. Im Public Interest System Indiens und anderer Länder kann eine einzige NGO – wie in unserem Recht auf Nahrung-Fall – 350 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze repräsentieren. Eine einzige Organisation, ein einziger Fall, eine einzige Unterschrift.

Der Westen müsste verstehen, dass er eigentlich Teil der Vergangenheit ist und viele andere Länder im Bereich des Public Interest Law weit fortgeschritten sind.

Und in Österreich oder Europa wäre das nicht möglich?

Es wäre nicht nur unmöglich, sondern es würde wohl darüber gelacht werden. Richter würden sich über diese Anomalie des indischen Systems lustig machen. Und das ist es auch, eine revolutionäre Anomalie, ein revolutionärer Wandel von dem auch der Westen profitieren könnte. Indien, Pakistan, Nepal, viele Länder Asiens, viele Länder Südamerikas wie Kolumbien haben ein ähnliches System, ebenso afrikanische Länder wie Südafrika. Der Westen müsste verstehen, dass er eigentlich Teil der Vergangenheit ist und viele andere Länder im Bereich des Public Interest Law (Gesetzgebung im öffentlichen Interesse) weit fortgeschritten sind. In Indien hat man seit den 1970er- und 1980er-Jahren entschieden: wir weichen von westlicher Gerichtsbarkeit und dem adversatorischen System ab.

So ein System braucht gleiche Bedingungen, A kommt zu Gericht, B antwortet; A hat einen Anwalt, B hat einen Anwalt; A argumentiert, B argumentiert usw. Das sah man in einem Land mit 60-70% der Menschen unter der Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag, nicht gegeben – Menschen, die nicht gehört werden, sich nicht verteidigen können. Deshalb das System des Public Interest Law, bei dem eine NGO die Armen repräsentieren kann und das Gericht die Verantwortung übernimmt, die Beweise vorzubringen. Wenn also jemand den Vorwurf erhebt, im Gefängnis gefoltert worden zu sein, dann wird das Gericht diesen Vorwurf untersuchen und den Prozess vorantreiben, statt dies dem mutmaßlichen Leidtragenden zu überlassen.

Ist die Judikative in dieser Entwicklung nicht mit der Legislative in Konflikt geraten?

Die Auseinandersetzung war nicht mit der Legislative, sondern eher zwischen konkurrierenden Ideen und Werten. Viele wollten dieses System zerschlagen oder haben sich darüber lustig gemacht. Aber es funktioniert so lange, so oft schon und so gut, dass es schon zu spät ist, es jetzt noch zu beseitigen. Es hat durch seine Beständigkeit und Leistung gewonnen. So viele gute Fälle wurden vorgebracht, zu Themen wie Ernährung, Gesundheitsversorgung, Wohnen, Behinderung, Umweltschutz, Folter, Hinrichtung, den Rechten von Frauen, Menschen mit HIV, der indigenen Bevölkerung, der niedrigen Kaste der Dalits… Westliche Richter und Professoren sind immer noch sehr unnachgiebig in ihrer Ablehnung solcher Reformen. Es wird nicht ernsthaft diskutiert und ist oft mit Hohn verbunden.

Dabei stagnieren westliche Denkweisen zu Rechten für die Armen. Und diese unsinnigen und lange überholten westlichen Prinzipien werden immer noch gelehrt, wie im Bereich der Justiziabilität. Soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte wie das Recht auf Nahrung werden nicht als Kompetenz der Gerichte gesehen, sondern sollen Regierungen überlassen werden. Dazu sagen unsere Gerichte, natürlich überlassen wir das der Regierung, überhaupt kein Problem. Aber: wenn eine Regierung lange Zeit nichts tut und wir dazu verpflichtet sind Menschenrechte zu verteidigen, sollen wir dann still bleiben oder Anordnungen geben, die Handlung erzwingen? Und was ist daran falsch?

In manchen europäischen Ländern haben wir ja derzeit eher das umgekehrte Problem, dass Regierungen die Arbeit der Gerichte einschränken wollen oder einschlägige Richter eingesetzt werden. Oder in Österreich wo das Recht der Wirtschaft statt das Recht auf Nachhaltigkeit in die Verfassung geschrieben werden soll. Gibt es solche Konflikte auch in den Entwicklungsländern?

Natürlich, die gibt es in jedem Land der Erde. Denn die Gegner des Kapitalismus, des unmenschlichen Kapitalismus den wir heute sehen, sind die Medien und die Judikative. Die Medien können gehandhabt werden, alles was man dazu tun muss, ist die Medienunternehmen aufzukaufen und zu neutralisieren, wie es auch in Indien passiert. Dadurch ist dieser Gegner, der für Transparenz, Offenheit, Kritik und faire Berichterstattung sorgt, kontrolliert. Der echte Gegner eines unmenschlichen, eines faschistischen Kapitalismus ist also die Judikative, die durch Einschüchterung, Hohn, Auswechslung von Richtern und so weiter in ihrer Unabhängigkeit untergraben wird. In Asien gibt es viele Beispiele dafür in Malaysia, Sri Lanka, Pakistan, Bangladesch oder Indien, wo wir vor kurzem die außergewöhnliche Situation hatten, dass vier der höchsten Richter des Landes die Regierung in einer Pressekonferenz für Einmischung in der Judikative kritisierten. Angriffe auf die Judikative sind also weitverbreitet und werden als Gegner von Regierungen wahrgenommen.

Aber die vorhin erwähnte positive Einflussnahme der Judikative funktioniert trotzdem noch?

Ja das funktioniert noch, vielleicht nicht mehr so energisch wie zuvor, aber es funktioniert. Und es ist eine einflussreiche Institution, für die man kämpfen, die man verteidigen und erhalten muss. Sie ist das einzige, was in der heutigen Welt zwischen uns und dem Faschismus steht.

Gibt es Pläne für einen Wissens- und Wertetransfer, nachdem man anderswo anscheinend viel von ihren Erfahrungen lernen könnte?

Wir versuchen gerade eine globale Initiative auf die Beine zu stellen, bei der die Entwicklungsländer ihre Verfassungsrechte vereinheitlicht nutzen. Heute passiert das alles noch sporadisch in den verschiedenen Ländern, die ich vorhin erwähnte. Wir wollen versuchen die Goldmine, die dieses revolutionäre System der Rechtsprechung für die Armen darstellt, zu nutzen und sie in einem Centre for Constitutional Rights (Zentrum für Verfassungsrechte) zusammenbringen, in dem diese Praxis gelehrt und die Idee der Public Interest Litigation in Entwicklungsländern verbreitet werden soll.

Das ist ein bisschen ein Kontrast zum westlichen Ansatz, der auf die Rolle der UNO in der Unterstützung von Entwicklungsländern verweist. Wir glauben, dass vielleicht eine Balance gefunden werden muss zwischen dem bisher starken Schwerpunkt auf dem UN-System und jetzt eben Verfassungsrecht in den jeweiligen Ländern. Die Stärkung dieses Aspekts ist ein unterschätztes aber sehr mächtiges Mittel, durch das die Gerichte dort gute Resultate erzielen könnten, wo zivilgesellschaftliche Organisationen feststecken.

Die Armen profitieren von den Gerichten und die Gerichte, freuen sich Beschlüsse für die Armen zu fassen. Was ist daran verkehrt? Manchmal ist es gut verrückt zu sein.

Gibt es auch Anwendungsmöglichkeiten in den Industrieländern? Könnte man auch dort von dieser Praxis profitieren?

Als ich in einer Besprechung mit der DKA meinte, dass dies im Grunde eine Initiative der Entwicklungsländer wäre, kam von jemandem der Einwand, dass auch hierzulande in einem wichtigen Umweltfall, prozessieren in repräsentativer Kapazität erlaubt wurde. Es könnte also sein, dass sich auch da Öffnungen ergeben und ich war angenehm überrascht. Ich sehe keine Gründe, warum Gruppenrechte und Public Interest Litigation nicht auch im Kontext von Industrieländern Verwendung finden könnten. Nur sind wie gesagt die Vorstellungen der Professoren und Richter zu sehr in der Vergangenheit verhaftet und haben nichts für die Zukunft zu sagen. Ich verliere Mut und Hoffnung, wenn ich sie dozieren höre. Da wird so getan, als ob dass, was die Entwicklungsländer machen, verrückt ist. Sie sind nicht verrückt aber sie leben auch nicht. Und es ist verrückt, wir geben zu, dass wir verrückt sind – aber auf eine gute Art und wir erzielen gute Resultate. Die Armen profitieren von den Gerichten und die Gerichte, freuen sich Beschlüsse für die Armen zu fassen. Was ist daran verkehrt? Manchmal ist es gut, verrückt zu sein.

Man könnte auch sagen wir sind innovativ, unternehmerisch, initiativ, lebhaft. Ich nehme das als großes Kompliment. Es ist auch für den Westen Zeit, diesen Veränderungsgeist aufzugreifen. Aber das wird nicht einfach so passieren, nicht im Westen, definitiv nicht in Amerika, vielleicht nicht in vielen Ländern. Aber wir müssen die Richtung zeigen – mit unserem Centre für Constitutional Rights – und Menschen zusammenbringen.

Links:

Ein Gedanke zu „“Manchmal ist es gut, verrückt zu sein.” – Interview mit Menschenrechtsanwalt Colin Gonsalves

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert