„Haus der Zivilgesellschaft“ und integrales Denken
Das Haus der Zivilgesellschaft besteht aus zwei (oder mehr) Etagen. Im Parterre haust der Bourgeois. Dieser befasst sich hauptsächlich mit dem Geldverdienen. Man kann auch sagen: er dient, um Geld zu verdienen. So macht er sein Leben. Das ist so auch ganz in Ordnung.
In der oberen Etage — dabei handelt es sich eher um eine Mansarde – schlüpft er in die Rolle des Citoyens und kümmert sich um die öffentlichen Angelegenheiten. Ein großer Teil dieser öffentlichen Angelegenheiten besteht darin, das System des „Dienens und Verdienens“ in eine für alle gute Bahn zu lenken: d.h. die Stabilität dieses Systems einigermaßen zu gewährleisten, indem man die Nicht-Eigentümer an den Erträgen beteiligt, die Handelnden zu einem schonenden Umgang mit der Natur veranlasst, für die Infrastruktur dieses Systems Sorge trägt. In dieser Etage wird nicht über das System, sondern die Gestaltung des Systems entschieden.
Wir leben längst in einer Zivilgesellschaft, und die Initiative Zivilgesellschaft kann nichts anderes als Impulsgeber zur Gestaltung von moderner (ziviler) Gesellschaft zu sein.
Einige Mitglieder des IZ scheinen sich in der Rolle zu gefallen, die Zivilgesellschaft neu erfinden zu wollen: endlich eine wahre Zivilgesellschaft zu erschaffen; eine große Alternative in die Welt zu setzen. Man erkennt nicht, was schon ist, und beteiligt sich an der Produktion von Illusionen, was die vorhandenen Strukturen nur verfestigt.
Wir können nur produktiv sein, wenn
- wir im Strom der Gesellschaft und nicht gegen ihn anschwimmen; wenn wir nicht zivilgesellschaftlich-politische Angelegenheiten gegen die Wirtschaft ausspielen. Nochmal: die Wirtschaft ist nicht nur Teil der Zivilgesellschaft; sie ist ihre Basis
- wenn jeder von uns auf seinem Gebiet, aber unter dem Dach des Hauses Zivilgesellschaft professionell arbeitet.
In den modernen Gesellschaften gibt es eine Arbeitsteilung: die einen machen Politik, die anderen beschäftigen sich mit Geld. Gut ist, wenn sich der Bourgeois auch als Citoyen betätigt. Man redet viel von Demokratie oder von Demokratiedefiziten, vergisst aber dabei, dass die Demokratie nur in der Mansarde haust, die auf den ökonomischen Unterbau angewiesen und ohne diese gar nicht existieren kann. Demokratie ist nicht das ganze Haus.
Das System heute beruht auf einem Dualismus von Politik oder Staat und Wirtschaft. Der Staat funktioniert nach dem archaischen und autoritären Prinzip des Pooling (zwangmäßiges Einsammeln von Ressourcen und zentrale Entscheidung, wie das Geld ausgegeben wird), das alle Bürger den gleichen Normen unterwirft; die Wirtschaft funktioniert nach dem Prinzip des do ut des, auf Exchange. Exchange (Markt) ist auf den Staat, der Staat auf den Markt angewiesen. Staat und Markt gehören komplementär zueinander, auch wenn sie auf ganz verschiedenen Prinzipien beruhen.
Ideologisch werden Staat und Markt aber gegeneinander ausgespielt. Die einen schimpfen auf den Staat (insbesondere der Neoliberalismus), die anderen auf den Markt (Marxisten, Sozialisten und andere „Gutmenschen“).
Zivilgesellschaftliche Initiative dürfen sich nicht an diesem Ausspielen beteiligen. Dies wirkt auch nicht friedensstiftend. Sie sollen auch nicht meinen, sie könnten eine Zivilgesellschaft neben der Bestehenden errichten.
Geistig Frieden stiften heißt: Integrieren. Integrieren heißt: die Rollen oder Funktionen verstehen, die die Gesellschaft braucht, um zu überleben und den Herausforderungen der Zeit langfristig (nachhaltig) zu entsprechen.
Was wir uns versagen müssen, ist die Produktion von Illusionen und die Pflege unnötiger und realitätsfremder Dualismen.
- Etwa das ständige Beargwöhnen egoistischer Interessen; oder der Glaube, diese unterdrücken zu müssen, um das Gesamtwohl oder die Natur zu retten. Selbstverständlich geraten persönliche oder egoistische Interessen oft in Konflikt mit einem vorgestellten Gesamtwohl. Aber wir dürfen dieses nicht unabhängig vom Bestreben der Individuen denken, ihre persönliche Situation zu verbessern. Dieses Streben ist die Triebfeder für alles. Zivilisierung heißt: den Egoismus nicht triebhaft oder unmittelbar ausleben, sondern ihn so zu kanalisieren oder zu transformieren, dass beides zusammengeht. Der Einzelne opfert seine Interessen nur in Ausnahmensituationen dem Gesamtwohl. Allerdings nimmt er gerne Rücksicht auf dieses, wenn es ihm nicht schadet. Soziales Handeln und egoistisches Handeln gehen oft Hand in Hand. Ein Beispiel: wer etwas für die Gemeinschaft beiträgt, steigt im sozialen Rang auf.
- Auf die Umweltbewegung umgemünzt heißt das: wir können nicht die Umwelt auf Kosten der Gesellschaft (=ihres zivilen Organismus) retten.
Wir stehen jetzt vor der größten Herausforderung des modernen „Kapitalismus“. Es gibt drei große Problembereiche.
- umweltschonendes Wirtschaften
- mehr Verteilungsgerechtigkeit
- Verhindern der Verselbstständigung der Finanzmärkte.
Wir haben in unserem jetzigen System alles, was wir brauchen, um diese Ziele zu erreichen. Wer glaubt, all das nur durch ein anderes System erreichen zu können, wird nichts erreichen.
Umweltschonendes Verhaltenkann in erster Linie durch fiskalische Maßnahmen erreicht werden, insbesondere durch Verteuerung umweltbelastender Materialien. Damit können das Sozialsystem und andere Belange finanziert werden. Man kann also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Hinzu kommen Verbote und Gebote. Die Prüfung von Investitionsvorhaben auf ökologische Standards, usw.
Verteilungsgerechtigkeitdurch Stärkung der Gewerkschaften und Einführung von Mindestlöhnen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist auch eine wichtige Maßnahme zur Herstellung der Verteilungsgerechtigkeit und zur Sicherung von wirtschaftlichen Existenzen.
Finanzmärkte neigen zur Hypertrophie. Hauptursache ist die Geldschöpfung durch private Institutionen. Deshalb die Forderung nach einer Geldschöpfung durch die Zentralbank(en).
Beitrag von Raimund Dietz, Oktober 2020