Für digitalfreie Kindergärten – die Wissenschaftler-Organisation VDW beleuchtet die „Ambivalenzen des Digitalen“

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(cooppa, 18.10.2019, Manfred Ronzheimer) In betont kritischer Haltung näherte sich die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) auf ihrer zweitägigen Jahreskonferenz, die vorige Woche in der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin stattfand, dem Thema Digitalisierung. Dies lag sozusagen in den wissenschaftspolitischen „Genen“ der Organisation begründet, die 1959 aus dem Protest der damals führenden deutschen Atomphysiker, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker als einer der „Göttinger Achtzehn“, gegen Pläne zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr entstanden war. Der „Sündenfall“ ihrer Wissenschaft, den Missbrauch der Kernphysik zum Bau der Atombome im zweiten Weltkrieg, hat bis heute zu einem hohen ethischen Bewußtsein der VDW für gesellschaftlich problematische Entwicklungen in der Wissenschaft beigetragen.

Nun ist die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz an der Reihe, um mahnend den Zeigefinger zu heben. Der Konferenz liegt ein Positionspapier vor, in dem auf acht Seiten sowohl die gesellschaftlichen Auswirkungen von Digitalisierungsprozessen beleuchtet und hinterfragt wie auch ethische Fragen und Fragen zur Regulierung thematisiert werden. Titel des Manifests: „Die Ambivalenzen des Digitalen. Mensch und Technik zwischen neuen Möglichkeits(t)räumen und (un)bemerkbaren Verlusten“.

Reduktionistisches Weltbild

Das Papier wie die inhaltliche Struktur der Tagung gliedert sich in drei fachliche Felder: Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe, Bildung und Digitalisierung, sowie Wirtschaft, Arbeit, Soziales. Am wichtigsten auch für den derzeit breiter stattfindenden Ethik-Diskurs über die Digitalisierung sind die Ausführungen der VDW-Autoren zum „zu Grunde liegenden Menschenbild“. So heißt es: „Der derzeitigen Entwicklung digitaler Technologien und maschinellen Lernens liegt ein reduktionistisches Weltbild zugrunde, das sich in der Metapher des Menschen als Informationsverarbeitungssystem zuspitzt.“

Der Mensch werde auf seine „mechanischen Eigenschaften reduziert“ und erscheine als ein „Mängelwesen, dessen kognitive Fähigkeiten zwar als im Tierreich außergewöhnlich, aufgrund seiner organischen Limitationen jedoch als letztendlich ineffizient gilt und deshalb durch adäquate technologische Ergänzung optimiert werden soll“, bis hin zum Transhumanismus. Daraus ergibt sich der Warnruf: „Bleibt so eine, letztlich inhumane und menschenverachtende Weltanschauung auch in der Zukunft das dominante, die Entwicklung und Anwendung von digitalen Technologien und der mit ihnen eng verbundenen KI leitende Bild, wird die Digitalisierung zu einer immanenten Gefahr für den Menschen und womöglich für das organische Leben auf der Erde schlechthin“.

Risiken überwiegend verschwiegen

In den einzelnen Kapiteln werden gefährliche Entwicklungen konkretisiert und Kursänderungen eingefordert. So wird im Bildungs-Teil die Auffassung vertreten, dass die positiven Chancen der Digitalisierung einseitig nach vorne gestellt würden, obwohl es an didaktischen Wirkungs-Beweisen fehle, und zugleich die Risiken überwiegend verschwiegen werden. Wörtlich heißt es: „Beispielsweise zeigen die vorliegenden Forschungsergebnisse, dass die Nutzung digitaler Bildschirmmedien im Kindergarten- und Grundschulalter überwiegend negative Folgen hat, so dass hier ein Moratorium auf Nutzung von digitalen Bildschirmmedien durch die Lernenden erforderlich ist“.

Vor der Voll-Digitalisirung des deutschen Schulwesens muss aus Sicht der VDW noch eine lange Mängel-Liste abgearbeitet werden: „Beispiele sind die wichtigen und kritischen Beiträge aus der historischen und philosophischen Bildungsforschung, Mediensuchtforschung, der pädiatrischen und entwicklungspsychologischen Medienwirkungsforschung, Public Health und Präventionswissenschaft, Neurobiologie, Bindungsforschung, der Kritik Algorithmen basierter Steuerungssysteme und Datenverwertungsökonomie sowie der Forschung zu Auswirkungen nichtionisierender elektromagnetischer Strahlung.“ Daraus folgt die Forderung, vor allem die Jüngsten von dem offenen Medienexperiment auszunehmen und dafür zu sorgen, dass Betreuung und Unterricht „bis Ende der Kindergartenzeit gänzlich ohne und bis Ende der Primarstufe weitestgehend ohne den Einsatz digitaler Bildschirmmedien“ erfolgt. Der Digitalpakt für die Schule müsse durch einen „Analogpakt#D“ ergänzt werden.

Wem gehören die Daten?

Weitere Vorschläge gelten Veränderungen den Bereichen Gesundheit und Arbeitswelt. Für die Medizin wird das Problem des Dateneigentums angesprochen, das anders gelöst werden müsse: „Obwohl Forschung und Entwicklung, die den Technologien zugrunde liegen, in der Regel öffentlich finanziert sind, wird das geistige Eigentum der Geräte, Algorithmen und Quellcodes zu Privateigentum und Betriebsgeheimnis erklärt“. Das VDW-Papier bietet mithin reichlich Stoff kontroverse Debatten.

Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) setzt sich gemäß Satzung für Verantwortung und Nachhaltigkeit in der Wissenschaft ein. Die Mitgliedschaft setzt sich aus rund 400 Geistes-, Sozialwissenschaftlern sowie Naturwissenschaftlern zusammen. Die Geschäftsstelle des Vereins befindet sich in Berlin. Derzeitiger Vorstandsvorsitzender ist der Hamburger Wetter- und Klimaforscher Hartmut Graßl.

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