Fantasie und Fakten
Erfordernisse einer gesellschaftlichen Zukunftskommunikation und Chancen eines partizipativen Zukunftsjournalismus
(cooppa, 09.01.2020, Manfred Ronzheimer) Zukunftsbezogenes Denken und Handeln benötigt Narrative und Informationen. Narrative sind die großen Erzählungen, die Gesellschaften und Epochen in unterschiedlichen Formen der Kommunikation durchziehen und einen jeweiligen „Zeitgeist“ zum Ausdruck bringen; zu den wichtigsten Formaten zählen die Literatur und der Film.
Informationen, wie sie der Journalismus tagesaktuell sammelt und verbreitet, sind demgegenüber wichtige Elemente zur Interpretation und konkreten Gestaltung der Realitäten. Gehandelt werden muss heute, auch wenn es die Zukunft betrifft.
Die beiden Formate der Kommunikation sprechen die Nutzer – Leser und Zuschauer – in unterschiedlicher Weise an: die Narrative ziehen in erster Linie gefühlsmäßig in den Bann und können auf diese Weise auch die eigene Fantasieproduktion beim Leser bewirken. Emotion ist hier der Schlüsselbegriff. Journalismus stellt in seinem Kernbereich aktuelle Fakten bereit, die den Intellekt ansprechen und vom Bewusstsein verarbeitet werden. Natürlich gibt es für beide Kommuniktionsbereiche Formate gegenseitiger Verschränkungen, wie die Fachliteratur, die rational-kognitiv aufgenommen wird, oder Boulevard-Medien, die Informationen zur Emotionalisierung verwenden, wie bei der Skandal-Berichterstattung. Die Hauptlinien sind gleichwohl: Narrative sprechen das Herz an, Journalismus den Kopf.
Die Entdeckung der Zukunft
Im Zeitalter der Industrialisierung hat das Zukunftsdenken einen großen Aufschwung erfahren, der sich sowohl in narrativen Visionen etwa eines Jules Verne niederschlug, wie auch in der journalistischen Berichterstattung über die täglichen Fortschritte der Technik. Eine neue Welt war nicht nur vorstellbar, sondern auch gestaltbar. Die Erfolge der Wissenschaften und ihre ingenieurtechnische Anwendung waren in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung.
Für den ersten organisierten Auftritt eines Fachjournalismus in diesem Bereich, die Gründung der „Technisch-Literarischen Gesellschaft“ (TELI) in Berlin 1929, war diese Klammer zwischen Narration und Journalismus sogar namensgebend. In jener Zeit der Eroberung der Lüfte, der Elektrifizierung der Haushalte, der neuen Automobilität, erschöpfte sich der Journalismus in der tagesaktuellen Faktenbegleitung dieser großen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Für kritische Reflexion fühlte sich der damalige Wissenschafts- und Technikjournalismus noch nicht zuständig.
Kritischer Wissenschaftsjournalismus
Diese Haltung begann sich zu ändern, als das Versprechen des technischen Fortschitts auf eine bessere Zukunft Risse bekam. Eine zentrale Rolle spielte hier die Atomphysik, die mit der Entdeckung der Kernspaltung und des darin schlummernden Energiepotentials die Öffnung von zwei Pandora-Büchsen ermöglichte: Atombomben und Atomreaktoren. So wie in der Literatur erstmals negative Bilder von der Zukunft der Menschheit gezeichnet wurden, wie in Huxleys „Schöner neuer Welt“ oder Orwells „1984“, so keimten auch im Journalismus Zweifel und bereiteten einem Wissenschaftsjournalimus mit skeptischer Ausrichtung den Boden.
Hier ist vor allem der Wissenschaftsjournalist Robert Jungk zu nennen, der sich in seinen Beiträgen zu einem populären Kritiker der Atomenergie und deren Stützung durch Wissenschaft und Politik entwickelte („Der Atomstaat“). Zugleich engagierte sich Jungk in den 60er- und 70er-Jahren für die entstehende Zukunftsforschung und schlug mit seinem Instrument der „Zukunftswerkstätten“ eine Brücke in die Gesellschaft. Betroffene zu Beteiligten machen, war Jungks Devise. Diese Forderung nach Partizipation wird erst heute richtig verstanden und umgesetzt. Der von Jungk intendierte und in seinen Schaffensjahren auch realisierte „kritische Wissenschaftsjournalismus“ hat sich allerdings bisher nicht zum Mainstream entwickelt. Vielmehr dominiert im heutigen Wissenschaftsjournalismus eine affirmative Haltung, die durch Popularisierungsansätze aus der Wissenschaft selbst („Public Understanding of Science“) flankiert wird und sich unter Nutzung neuer medialer Möglichkeiten stärker einem „Sciencetainement“ öffnet.
Große Transformation von Wissenschaft zu Journalismus
Moderne Zeiten sind zwar immer Zeiten stetigen Wandels. Aber inzwischen ist es höchste Zeit für einen zielgerichteten Wandel mit massiver Intensität: Eine „Große Transformation“, wie es der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderung der Bundesregierung (WBGU) in seinem bekannten Gutachten 2011 formuliert hat. Verbunden übrigens mit dem Vorschlag eines grundlegend neuen „Gesellschaftsvertrags“, eine Anregung, die seitdem leider nicht nennenswert aufgegriffen wurde.
Ausgehend von den ersten Signalen des Klimawandels sind für den Beirat tiefgreifende Veränderungen nötig, wenn der Planet und auf ihm die Menschheit in diesem Jahrhundert nicht ökologisch voll gegen die Wand fahren soll. Ein zentrales Vorhaben ist die „Dekarbonisierung“ der heutigen Wirtschaftsabläufe, der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energien. Andere „Große gesellschaftliche Herausforderungen“ (Grand Challenges) kommen hinzu: Welternährung, Meeresschutz, alternde Gesellschaft, Urbanisierung, Infektionskrankheiten, Gemeingüter, etc. In starkem Maße ist hier die Wissenschaft gefordert.
Aber nicht nur sie, auch der Journalismus, der über seine öffentliche Berichterstattung gesellschaftliches Bewusstsein mitformt. Leider ist die mediale Darstellung der Themen der Großen Transformation und des Zukunftswandels im heutigen Mediensystem nur randständig. Es bräuchte einen „Transformations- bzw. Zukunftsjournalismus“, der den großen Herausforderungen den ihnen gebührenden Stellenwert einräumt. Und es bräuchte Medien, die diese Inhalte transportieren, etwa in Form von „Transformations- bzw. Zukunftszeitungen“.
Fehlendes Narrativ des Anthropozäns
Die Veränderung ist zugleich Teil des Prozesses, der gegenwärtig durch die Digitalisierung das Medienssysten ebenfalls transformiert: auch hin zu neuen, partizipativen Medien, an denen der Nutzer im Unterschied zu früher aktiv mitwirken kann. Im Prozess der „Zukunftsgewinnung“ sind beide Kommunikationsformate, das gesellschaftliche Narrativ und der Journalismus, für die neue Epoche, sogar das neue Erdzeitalter mit der Bezeichnung „Anthropozän“, noch unterentwickelt. Anthropozän bedeutet, dass die Menschheit in eine neue Epoche eintritt, in der sie die größte Kraft für die physischen Veränderungen auf dem Planeten ist. Dies wird derzeit mit negativen Nebeneffekten konnotiert, wie dem Regenwaldverlust und dem Schwinden der Biodiversität oder dem Missbrauch des Gemeinguts Atmosphäre als Müllabladeplatz für Kohlendioxid. Diese realen Gefahren gehen einher mit negativen Zukunftsentwürfen (Dystopien), in deren Schilderung sich der Zustand von Natur und Gesellschaft fortlaufend verschlechert. Eine Aktualisierung erfährt diese Richtung durch die stärkere Wahrnehmung der Folgen von Digitalisierung, Roboterisierung und Künstlicher Intelligenz.
Was fehlt, ist das Narrativ von der positiven Gestaltbarkeit des Anthropozäns. Ausgehend von der neuen Verantwortung, die die Menschheit in ihrer heutigen Wirkungsmacht für den Planeten hat, müssen sowohl die politischen und gesellschaftlichen Governance-Strukturen wie auch das technische Instrumentarium neu in den Blick genommen werden, um es in den Zustand eines ökologischen (und auch sozialen) Gleichgewichts zu überführen. Eine solche „große Erzählung“ der „Großen Transformation“ – nach dem Muster von Callenbachs „Ökotopia“ – steht noch aus. Kein grüner Harry Potter setzt seinen Zauberstab ein, um dem Anthropozän den Charakter der Katastrophe zu nehmen und in einen besseren Ort zu verwandeln; kein ökologischer Karl May machte sich auf die Reise durch Fantasiewelten, in denen die Kriegführung gegen die Natur beendet und der neue Gesellschaftsvertrag in Kraft getreten ist. Die literarische Zukunftsverweigerung produziert eine Leerstelle im gesellschaftlichen Bewusstsein und letztlich auch im realpolitischen Handlungsraum.
Die Zeichen stehen auf Wandel
So muss der tagesaktuelle Journalismus einspringen und die Informationen liefern, die für die Große Transformation benötigt werden. Auf dieser Seite ist mittlerweile ein doppelter Veränderungsprozess in Gang gekommen, der freilich in seinem Volumen noch nicht als die große Medienwende aufgefasst werden darf. Zum einen gibt sowohl von seiten der praktizierenden Journalisten wie auch von Teilen der Leserschaft den verstärkten Wunsch, die Schlagseitigkeit zur Priorisierung negativer Nachrichten (gemäß der Presseregel „Only bad news are good news“) zu beenden und mehr auf die Verbreitung positiver Meldungen, „Geschichten des Gelingens“, zu setzen. Konstruktiver Journalismus und lösungsorientierter Journalismus (solution oriented journalism) sind hier die Schlagworte.
Es sind vor allem Pioniere des journalistischen Wandels, die eine solche Kursänderung weniger in den etablierten Medien (Ausnahme The Guardian), sondern im Aufbau neuer Medien und Kommunikationsformate vorantreiben. Dazu zählen unter anderem das Recherchekollektiv Correctiv, die Internetplattform Krautreporter, das Nachhaltigkeitsportal cooppa, und seinem legendären und immer noch lesenswerten Vorgänger N21 oder der neue Story-Dienst Perspective Daily, in dem journalistische Amateure aus der Wissenschaft für 12.000 Abonennten täglich eine Geschichte mit positiver Veränderungsrichtung produzieren wollen. Unten, auf der Graswurzelebene, beginnt ein neuer Journalismus zu keimen und zu sprießen. Auch im Wissenschaftsjournalismus entwickeln sich neue Formate, wie das Science Media Center in Köln, das mit einem Service-Angebot die Qualität in diesem Journalismussegement erhöhen will. Finanziert wird es, wie derzeit viele Medieninnovationen, aus Finanzmitteln gemeinnütziger Stiftungen, in diesem Fall der Klaus-Tschira-Stiftung.
Noch nicht angekommen sind im Journalismus dagegen neue Formate der Leser-Partizipation. Diese Richtung, die vom Ansatz des „Transformationsjournalismus“ verfolgt wird, will die Nutzer neben den Journalisten als Mit-Produzenten gewinnen. Nicht als solitären „Bürgerjournalismus“, der in der Regel nur ein Als-Ob-Journalismus minderer Güte reüssiert, sondern in Kombination mit der Kompetenz von Medienprofis. Ein Versuch wurde am Berliner „Futurium“ unternommen. Dieser Ansatz will auch die „Citizen Science“-Bewegung der Bürgerforscher, die derzeit den Wissenschaftsbetrieb in Deutschland erreicht hat, auf den Journalismus ausdehnen: Citizen Journalism.
Wenn in solchen von Bürgern mitproduzierten Medien, die Themen der Großen Transformation und der Gestaltung von Zukunft eine herausgehobene Rolle spielen, dann hat der Transformations- bzw Zukunftsjournalismus einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht. Was sich jetzt noch als Zukunftsmusik anhört, kann mit Beharrlichkeit und unter vieler Hände Mitwirkung durchaus bald mediale Realität werden. Im Mediensystem stehen die Zeichen jedenfalls voll auf „Wandel“. Große Chancen für Gestaltung.